WÖRTERBUCH DES JÜDISCHEN RECHTS
Neudruck 1980 der im "Jüdischen Lexikon"
(1927-1930)
erschienenen Beiträge von Marcus Cohn
ONESS
("Zwang", "Nötigung", von anoss, "zwingen"; anuss, "der Gezwungene, im Zwang Handelnde"; weiblich: anussa, "die Gezwungene", bes. "die Genotzüchtigte"; Mehrzahl: anussim, "die Gezwungenen", auch Bez. für die Marranen).
Ist eine Handlung im Gebiete des Straf- oder Zivilrechts erzwungen worden, so liegt 0. vor, und dies bewirkt auf dem Gebiete des Strafrechts grundsätzlich die Strafbefreiung des Täters, auf dem Gebiete des Zivilrechts die mangelnde Rechtskraft des vorgenommenen Rechtsgeschäfts. Der Zwang richtet sich gegenden Willen des Handelnden; er kann durch Naturereignisse oder durch Menschen, durch physischen oder psychologischen Einfluß auf den Handelnden ausgeübt werden. Im einzelnen ist vor allem zu unterscheiden, ob der Zwang direkt auf die Handlung ausgeübt wurde, so daß diese Handlung selbst unfrei erfolgt ist (entsprechend der römischrechtlichen vis absoluta); dann ist dieser erzwungenen Handlung keine rechtliche Bedeutung beizumessen. Ist aber ein Rechtsgeschäft durch Drohung und Zwang erzwungen (vis compulsiva), wobei dann die Handlung selbst frei erfolgt ist und nur der rechtliche Wille des Handelnden unfrei war, so sind die rechtlichen Folgen im j. Recht verschieden, je nachdem es Delikte (strafrechtliche Handlungen), Rechtsgeschäfte des Vermögensrechts, Akte des Eherechts oder religiöse Handlungen betrifft.
1. Strafrecht. Der Täter, der als anuss handelt, ist straffrei. Aus der bibl. Norm Deut. 22, 25ff., daß der Notzüchter getötet wird, die Vergewaltigte (anussa) aber keine Strafe erhält, wird der allgemeine Grundsatz abgeleitet, daß "den zu einer Sünde Gezwungenen die Tora von Strafe freispricht" (b. Ned. 27a). Das j. Recht geht hierbei von dem Gedanken aus, daß der Täter im Hinblick auf eine für Leib und Leben drohende Gefahr sich in einem Notstande befindet, der die Strafbarkeit ausschließt, da sein Vorsatz nicht durch freie eigene Motive, sondern durch eine fremde Kraft ihm auferzwungen wurde. Nur die drei Todsünden (Götzendienst, Inzest und Mord) dürfen auch im Notstande nicht begangen werden. In Zeiten der Judenverfolgungen sollen jedoch auch andere Normen nicht übertreten werden, um den göttlichen Namen zu heiligen (b. Sanh. 74a; b. Ned. 27a; b. Ber. 6lb; b. B. K. 28b; b. A. S. 54b; b. Joma 83a; b. Jew. 53a).
2. Vermögensrecht. Grundsätzlich sind
die erzwungenen
Rechtsgeschäfte ungültig. Das Prinzip wird jedoch beim Kauf
zugunsten
des Verkäufers durchbrochen, indem dort, wenn nur der Wille zum
Abschluß
des Rechtsgeschäfts gefehlt hat, nicht aber die Tat selbst
erzwungen
war, das Rechtsgeschäft seine rechtliche Geltung hat. Im
Talmud
wird diese Lösung damit begründet, daß eig. jeder
Verkauf
mehr oder weniger durch Motive wirtschaftlicher Natur erzwungen sei (b.
B. K. 62a; b. B. B. 48a); es wird angenommen, daß der
gezwungenermaßen
Handelnde sich beim Abschluß des Vertrages schließlich
einverstanden
erklärte. Es dürfte jedoch dieser rechtlichen
Lösung
auch der Gedanke zugrundeliegen, daß der wirtschaftliche Verkehr
nicht gesichert erscheint, wenn unter Hinweis auf einen ausgeübten
Zwang ein herbeigeführter Kauf annulliert werden kann. Das j.
Recht
gewährte durch den Widerruf (Moda-a) die Möglichkeit,
allerdings
nur im voraus, sich gegen aufgezwungene Rechtsgeschäfte zu
schützen.
Der erzwungene Verkauf hat übrigens auch nur dann Geltung, wenn
der
Kaufpreis bereits bezahlt ist, der Verkäufer somit nicht weiterhin
zu Schaden kommt und wenn keine Übervorteilung (Ona-a) vorliegt.
Wurde
jedoch auf den Käufer ein Zwang ausgeübt, oder handelt es
sich
um eine Schenkung, so ist das erzwungene Rechtsgeschäft
ungültig;
es erscheint dies, vom talmudisch-rechtlichen Standpunkt aus gesehen,
darum
einleuchtend, weil der Schenker keine Gegenleistung und der Käufer
keinen vollwertigen Ersatz (Ware statt Geld) erhält.
Eine besondere Ausprägung hat im j. Recht die Regelung des Zwanges
bei der Haftung für Schaden erfahren, wobei unter Zwang alle
äußeren
Ereignisse verstanden werden, die mit Gewalt auf die handelnde Person
oder
die Sache eingewirkt haben. Ihr O.-Begriff hat in diesem Zusammenhang
die
Bedeutung des Zufalls oder der höheren Gewalt (vis maior). Im
einzelnen
unterscheidet der Talmud, je nachdem es sich um häufig oder selten
vorkommende Zufälle handelt. Die schwächste Haftung
lastet
auf dem Gratishüter (schomer chinnam), der nur für grobe
Fahrlässigkeit
(peschia) einzustehen hat (s. Verwahrung); dagegen haften
Lohnhüter
und der Mieter auch für den durch leichte Fahrlässigkeit
(genewa
wa aweda) entstandenen Schaden (s. Miete); der Entleiher
(scho-el)
hingegen, der aus der für ihn unentgeltlichen Leihe nur Vorteile
und
keine Nachteile ableitet, haftet auch für alle unter O.
verstandenen
Zufälle. Ferner befreit der O. den davon Betroffenen von
irgendwelchen
prozessualen Nachteilen, falls er z. B. infolge eines Zwanges innerhalb
der vereinbarten Frist nicht vor dem Gericht erscheinen konnte.
3. Eherecht. Der Akt der Eheschließung ist gültig, wenn er auf seiten des Ehemannes erzwungen wird, hingegen ungültig, wenn auf die Ehefrau ein Zwang ausgeübt wird. Der Grund dieser Regelung ist wohl darin zu erblicken, daß der Ehemann jederzeit in der Lage ist, der Ehefrau den Scheidebrief zu geben, während die Ehefrau die Scheidung nicht ohne weiteres erlangen kann (b. B. B. 48b; vgl. Raschbam z. St.; b. Kidd. 2b).
Eine Ehescheidung gilt jedoch nicht, wenn der Ehemann zur Ausstellung eines Scheidebriefes gezwungen wird, es sei denn, daß gesetzliche Scheidungsgründe für die Ehefrau vorliegen, da man dann berechtigt war, einen Zwang auszuüben. Die Übergabe des Scheidebriefes an die Ehefrau konnte noch nach dem Recht des Talmud von seiten des Mannes erzwungen werden; seit der Verordnung von R. Gerschom ist dies jedoch nicht mehr statthaft (b. Gitt. 88b).
Im Gebiete des Scheidungsrechts ist ferner verordnet worden, daß ein 0.-Fall im Interesse der Ehefrau bei der Scheidung nicht vermutet wird. Es gilt der Grundsatz: en oness begittin ("bei Scheidungen gibt es keinen Zwang", b. Gitt. 34a). Ist somit die Geltung eines Scheidebriefes an die Erfüllung bestimmter Bedingungen gebunden, so wird nicht vermutet, daß eine solche Bedingung vielleicht durch einen unvorhergesehenen Zwang nicht erfüllt werden konnte (b. Ket. 3a; vgl. Rosch und Tossafot z. St.). Diese Regelung erfolgte, um eine Unsicherheit im Scheidungsverfahren nach Möglichkeit zu vermeiden und zu verhüten, daß die Ehefrau eine Aguna werde.
4. Religion und Kultus. Wird eine religiöse Handlung infolge eines Zwanges vorgenommen, so gilt sie nicht als vollwertig ausgeübt und hat daher für die Person des Handelnden nicht die sonst aus diesem religiösen Akt sich ergebenden Wirkungen, z. B. Sühne durch ein Opfer (Korban). Wohl kann jemand z. B. zur Erstattung eines Opfers gezwungen werden; durch den Zwang soll man nur zur Erfüllung eines religiösen Gebots angehalten werden. Die Handlung selbst muß er jedoch nach diesem ausgeübten Zwang freiwillig durchführen (b. Arach. 21a), da bei allen religiösen Handlungen, bei denen auch der Wille vorhanden sein muß, dieser freie Wille auf die Handlung gerichtet sein muß und die bloße Handlung nicht genügt (b. Ket. 86a). Auch ein Gelübde (Neder), das zwangsweise ausgesprochen wird, hat keine Geltung (b. Ned. 27a).